Das Interview mit Claire Winter zu ihrem Roman „Die Erbin“ wurde mir vom HEYNE Verlag zur Verfügung gestellt. In dem Roman geht es um die Konfrontation einer Industriellentochter mit dem dunklen Erbe ihrer Familie und des Landes in der jungen Bundesrepublik.
„Man muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart wirklich zu verstehen und die Zukunft richtig zu gestalten“.
– Claire Winter
Was hat Sie inspiriert diesen Roman zu schreiben?
Im Sommer 2022 hatte ich ein Buch gelesen, das sich mit dem „braunen Erbe“ bekannter deutscher Unternehmerfamilien und Industriekonzerne beschäftigt hat. Diese sorgfältig zusammengetragenen Fakten über die Verstrickungen der Wirtschaft im Nationalsozialismus, über den Profit, der mit der Zwangsarbeit und den Arisierungen gemacht wurde, aber auch über den späteren Umgang mit dieser Vergangenheit nach dem Krieg, haben mich sehr beschäftigt und zum Teil auch wirklich schockiert. Es war der Ausgangspunkt für weitere Recherchen, aus denen schließlich die Idee zu der Geschichte von „Die Erbin“ entstanden ist.
Fußt „Die Erbin“ auf wahren Begebenheiten?
Nein, die Liefensteins hat es nie gegeben, sie sind fiktiv, aber ihr Tun und Handeln ist angelehnt an wahre Begebenheiten, wie sie sich damals zahlreich abgespielt haben. Ich war anfangs kurz in Versuchung, eine real existierende Unternehmerfamilie zu nehmen, aber davon hat man mir aus rechtlichen Gründen abgeraten und es hätte mich erzählerisch außerdem sehr eingeschränkt. In der Erbin geht ja auch um eine große Liebesgeschichte und um die zunehmende Zerrissenheit einer Familie während des Nationalsozialismus, die am Ende in einem Drama mündet.
Die Protagonistinnen im Roman sind zwei sehr unterschiedliche Frauenfiguren …
Ja, zum einen gibt es Cosima, die junge Erbin der Liefensteins, die 1957 dem Journalisten Leo Marktgraf begegnet und daraufhin versucht, die Wahrheit über ihre Familie herauszufinden. Dabei stößt sie auf immer mehr Lügen und düstere Geheimnisse. Die andere Protagonistin ist Elisa, die 1929 als Dienstmädchen in die Familie der schwerreichen Liefensteins kommt und dort nicht nur ein völlig neues Leben kennenlernt, sondern auch ihrer großen Liebe begegnet. Ich fand es spannend, die Liefensteins im Roman nicht nur auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, sondern auch aus den gesellschaftlich gegensätzlichen Perspektiven dieser beiden Frauen zu beschreiben.
Das es im Nationalsozialismus während des Kriegs Zwangsarbeit gegeben hat, ist bekannt. Warum fanden Sie wichtig, sich mit diesem Thema u.a. im Roman zu beschäftigen?
Ich glaube, dass nur Wenigen bewusst ist, welches Ausmaß die Zwangsarbeit wirklich hatte – wie grausam die Menschen behandelt wurden und dass zum Beispiel nach rassenideologischen Kriterien entschieden wurde, wie viel Kalorien jemand zu essen bekam oder gezielt bestimmte Personengruppen ohne Schutzmaßnahmen für besonders gefährliche Arbeiten eingesetzt wurden. Nur, um das einmal mit einer Zahl zu verdeutlichen – bei diesen Einsätzen sind mehr als 2,7 Millionen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ermordet worden oder ums Leben gekommen. Es gab unter den deutschen Unternehmen zwar Ausnahmen, die sich um eine anständige Behandlung bemüht haben, aber ein großer Teil der Konzerne und Firmen hat die damaligen gesetzlichen Bestimmungen nicht nur eingehalten, sondern eigenverantwortlich an der Brutalisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen mitgewirkt.
Der Roman erzählt aber auch von der Zeit nach dem Krieg …
Ja, es ist ein dunkles Kapitel der deutschen Wirtschaft, dass die meisten Unternehmen nach dem Krieg jegliche Verantwortung von sich gewiesen haben und bewusst dafür gesorgt haben, der Öffentlichkeit ein Image zu präsentieren, dass ihre vermeintliche Unschuld bezeugen sollte. In Nürnberg gab es dafür in den Nachkriegsjahren sogar ein eigenes Büro, dass die Schwerindustrie und auch einige Banken mitfinanziert haben. Dort wurden nicht nur Zeugenaussagen für die Prozesse koordiniert, sondern auch demenentsprechende Medienkampagnen gesteuert.
Cosima, die Protagonistin beginnt 1957 Nachforschungen über ihre Familie anzustellen. Was hat Sie als Autorin gerade an den 50er Jahren, aber auch an den 1930er und 1940er Jahren gereizt?
Ich fand den Gegensatz dieser Jahrzehnte für einen Roman extrem interessant. Die 50er-Jahre stehen in der BRD einerseits für die Zeit des Wirtschaftswunders und einen Neuanfang. Die Schrecken des Krieges und des Nationalsozialismus wurden verdrängt, aber die Vergangenheit hat andererseits natürlich nicht aufgehört zu existieren. Im Roman müssen Cosima und Leo das erfahren, als sie anfangen, Fragen zu stellen und dadurch selbst in Gefahr geraten.
Halten Sie es für wichtig, durch Ihre Bücher historisches Wissen über die damalige Zeit zu vermitteln, auch an jüngeren Generationen?
Ein Roman sollte natürlich vor allem auch unterhalten, spannend sein und emotional berühren, aber ich freue mich immer sehr, wenn ich von meinen Lesern und Leserinnen das Feedback bekommen, dass sie in meinen Büchern auch geschichtlich Neues erfahren haben. Ich selbst bin überzeugt davon, dass die Historie sehr viel mehr mit unserer Zeit heute zu tun hat, als uns oft bewusst ist. Es gibt ja diesen berühmten Satz: „Man muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart wirklich zu verstehen und die Zukunft richtig zu gestalten“. Ich finde, diese Worte drücken das sehr treffend aus.


Claire Winter
Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben, und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Claire Winters Romane finden sich regelmäßig auf den SPIEGEL-Bestsellerlisten. Die Autorin lebt in Berlin. (HEYNE Verlag)
Das Interview mit Claire Winter wurde mir freundlicherweise vom HEYNE Verlag für meinen Blog zur Verfügung gestellt.
Informationen zum Buch:

Titel: Die Erbin
Autor: Claire Winter
Genre: Roman
Print-Ausgabe: 592 Seiten
Ausgaben: E-Book, gebundenes Buch, Hörbuch
Verlag: Heyne Verlag (16. April 2025)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3453292588
ISBN-13: 978-3453292581