Da ich Prag mag und Egon Erwin Kisch für mich kein Unbekannter ist, machte mich die Ankündigung des Verlags auf den historischen Krimi „Die Schatten von Prag“ neugierig.
In Erwartung des Halleyschen Kometen herrscht im Mai 1910 in Prag eine Weltuntergangsstimmung. Ein vermeintlicher Selbstmord ist nur der Auftakt zu weiteren seltsamen Todesfällen. Ein Hinweis des Zöllners Novák zu einem Giftmord weckt das Interesse des berühmt-berüchtigten Gerichtsreporters Kisch von der Tageszeitung „Bohemia“. Die Kriminalpolizei hingegen zeigt kein Interesse an weitergehenden Ermittlungen. Kisch verfolgt eine Spur, die ihn zu einer nationalistischen Verschwörung führt. Bei einem seiner nächtlichen Streifzüge durch Prag begegnet er Lenka Weißbach, die er aus Berlin kennt. Sie begleitet ihn auf seinen Streifzügen und hilft ihm bei seinen Ermittlungen.
Lenka lernt im Zug von Berlin nach Prag eine geheimnisvolle Dame kennen, die eine faszinierende Ausstrahlung hat und der sie auch in Prag in der Nähe eines Tatorts wieder begegnet. Lenka hat in Berlin Medizin studiert und das Leben dort in vollen Zügen genossen. Nur widerwillig kehrt sie nach Hause, um ihre demente Mutter zu pflegen.
Wie haben mir „Die Schatten von Prag“ gefallen?
Mitternacht war gerade vorbei, die wenigen Passanten nahmen keinerlei Notiz von ihnen. Sie hatten es geschafft, sich in aller Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Sie waren die Schatten von Prag.
– Seite 164
Am meisten beeindruckt haben mich die Schilderungen der nächtlichen Streifzüge und des Prager Nachtlebens. Die Szenen werden so lebendig erzählt, dass ich das Gefühl hatte, dabei zu sein. Die Stimmung in der Zeitungsredaktion ist glaubwürdig dargestellt. Gut beschrieben wird auch die Unzufriedenheit der jungen Frauen, die um mehr Rechte kämpfen. Auch Lenka will mehr vom Leben und nimmt eine Anstellung bei „Bohemia“ an. Die herrschenden Unterschiede und Spannungen zwischen der deutschen und tschechischen Bevölkerung werden in verschiedenen Begegnungen deutlich herausgestellt.
Die Autoren haben den Zeitgeist gut eingefangen. Die Weltuntergangsstimmung passt zu der Handlung des historischen Krimis. Der Kriminalfall selbst tritt etwas in den Hintergrund und ist teilweise nicht ganz glaubwürdig.
Was so gar nicht nach meinem Geschmack war, war der langatmige Anfang, der sich über viele Seiten hinzog. Wenn ich nicht so neugierig auf den Reporter Kisch und seine nächtlichen Streifzüge gewesen wäre, ich hätte das Buch wahrscheinlich abgebrochen.
Fazit
Wer nach dem etwas zähen Anfang durchgehalten hat, wird mit lebendigen Schilderungen aus der damaligen Metropole Prag belohnt.
Fakten und Fiktion
Lenka Weißbach und die Handlung des historischen Krimis sind der Fantasie der Autoren entsprungen.
Egon Erwin Kisch (1885–1948)
Als Vorlage für den berühmt-berüchtigten Reporter Kisch bei „Bohemia“ in „Schatten von Prag“ dient der Schriftsteller, Journalist und Reporter Egon Erwin Kisch, der als „der Rasende Reporter“ bekannt wurde. Der in Prag geborene und lebende Kisch war ein wichtiger Vertreter der deutschen Literatur. Kisch arbeitete beim deutschsprachigen „Prager Tagblatt“ bevor er als Lokalreporter zu der renommierten Tageszeitung „Bohemia“ wechselte. Über seine nächtlichen Streifzüge durch die Prager Halb- und Unterwelt schrieb er nicht nur in der Zeitung, sondern auch später in seinen Reportagen. Er war mit vielen deutschen und tschechischen Schriftstellern befreundet. Unter anderem mit Franz Kafka und Jaroslav Hašek. Das im Buch erwähnte Nachtcafé „Montmartre“ hat es tatsächlich gegeben.
Hinweis zur wechselvollen Geschichte Tschechiens
Die Tschechische Republik existiert in der heutigen Form erst seit dem 01. Januar 1993, als die Slowakei auf eigenen Wunsch zu einem selbstständigen Staat wurde. 1910 gehörte Tschechien zum Kaiserreich Österreich-Ungarn mit Deutsch als Amtssprache. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde 1918 die demokratische Tschechoslowakei gegründet. Während der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 wurde die Tschechoslowakei zum Protektorat Böhmen und Mähren und die Slowakei zu einem selbstständigen Slowakischen Staat. 1948 übernahm die kommunistische Partei die Macht und die Tschechoslowakei wurde zu einem Satellitenstaat der Sowjetunion. 1989 wurde nach der Samtenen Revolution die Tschechoslowakei wieder demokratisch. Heute ist Tschechien ein Mitglied der NATO und der Europäischen Union.
Das E-Book wurde mir freundlicherweise vom Kanon Verlag für die Rezension zur Verfügung gestellt. Meine Meinung wird dadurch nicht beeinflusst.
Die Autoren
Martin Becker
Martin Becker wurde 1982 geboren. Er schreibt Romane sowie Reportagen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat in Prag gelebt und die »Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien« geschrieben. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale). Gemeinsam mit Tabea Soergel wurde er 2016 mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet. (amazon)
Tabea Soergel
Tabea Soergel, geboren 1983, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Sie schreibt Rezensionen und Radiofeatures, auch immer wieder zu tschechischen Themen. Sie lebt umgeben von viel zu vielen Büchern in Köln. Gemeinsam mit Martin Becker wurde sie 2016 mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis ausgezeichnet. (amazon)
Informationen zum Buch:

Titel: Die Schatten von Prag
Autor: Martin Becker und Tabea Soergel
Genre: Historischer Krimi
Print-Ausgabe: 312 Seiten
Ausgaben: E-Book, Gebundenes Buch, Hörbuch
Verlag: Kanon Verlag; 1. Edition (16. Oktober 2024)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3985681244
ISBN-13: 978-3985681242
Eine Übersicht meiner Rezensionen findest du in Rezensionen von A–Z
Unter Buchreihen Krimis und Thriller von A-Z und Trilogien und andere Mehrteiler von A-Z findest du eine Übersicht über Reihen, die ich gerne lese.
Liebe Kristina,
ich habe knapp die Hälfte des Buches gelesen und habe es dann abgebrochen. Das hat mir eindeutig zu lange gedauert bis hier irgend etwas passiert ist und ich habe mich wirklich beim Lesen gelangweilt.
Gut, dass du durchgehalten hast und es dir dann doch gefallen hat.
Liebe Grüße
Martina