“Der böhmische Samurai” erzählt eine ungewöhnliche Familiengeschichte, in der sich der Umbruch in Europa widerspiegelt. Vom beschaulichen Leben der Adelsfamilie von Coudenhove-Kalergi vor dem Ersten Weltkrieg, über die Anfänge des Nationalsozialismus und der Hitlerzeit, dem Zweiten Weltkrieg bis zur sudetendeutschen Vertreibungstragödie und der Nachkriegszeit.
1945 findet sich Johannes von Coudenhove-Kalergi genannt “Graf Hansi” in einem tschechischen Internierungslager wieder. Die deutsche Adelsfamilie hat durch die “Beneš-Dekrete” alles verloren. Und Hansi erzählt den Mitinsassen seine Lebensgeschichte.
Hansi ist drei Jahre alt, als er im Sommer 1896 mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder Richard nach Ronsperg kommt. Sein Vater Heinrich von Coudenhove-Kalergi wurde von seinem Vater gezwungen, den diplomatischen Dienst in Japan zu verlassen, um sein Erbe anzutreten. Seine japanische Ehefrau Mitsuko tauscht ihr Leben in Tokio gegen die böhmische Provinz. Die beiden Brüder und ihre Geschwister verbringen eine unbeschwerte Kindheit, bis ihr Vater 1906 stirbt und Hansi zum Schlossherrn wird.
Coudenhove-Kalergi ist ein bekanntes altes böhmisches Adelsgeschlecht. Neben Schloss Ronsperg hatte die Familie noch andere Güter in Böhmen, Österreich und Ungarn. Heinrich Coudenhove-Kalergi war sehr gebildet und weltoffen und stand im diplomatischen Dienst, bevor er unfreiwillig nach Böhmen zurückkehrte. Heinrich brachte seine japanische Ehefrau Mitsuko nach Böhmen. Die beiden hatten sieben Kinder. Johannes war der Stammhalter. Sein Bruder Richard war Vaters Liebling und hat später sein Werk fortgesetzt. Er engagierte sich in der Politik und gründete die Paneuropa-Bewegung. Sein Bruder Gerolf wurde Jurist und seine Schwester Ida wurde Schriftstellerin. Gerolfs Tochter Barbara wurde eine bekannte österreichische Journalistin. In dem Buch “Zuhause ist überall” hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht.
Die Kindheit der Brüder Johannes und Richard nimmt relativ viel Raum in dem Buch ein. Hansi und Dicky waren bis zum Tod ihres Vaters Heinrich unzertrennlich. Nach Heinrichs frühem Tod gelingt es Mitsuko nicht, die Familie zusammenzuhalten. Einzig Graf Hansi blieb in Ronsperg und lebte das extravagante Leben eines Schlossherrn. Er lässt sich nicht unterkriegen und versucht mit Witz und Intelligenz, das Beste aus seiner Situation zu machen. Er wird als arrogant, hochnäsig und als ein unberechenbarer Hallodri beschrieben, der sich jenseits aller Normen bewegt. Er kümmert sich nur um sich selbst und übernimmt keine Verantwortung. Eine Figur, die polarisiert. Er spricht fließend mehrere Sprachen, hat aber keine Ahnung von Landwirtschaft und kümmert sich nicht um seine Güter. Der Graf wird mit den Jahren immer spleeniger. So lässt er sich mit 33 Jahren eine Totenmaske machen, später baut er sich einen Ofen im “Schlafrockdesign”. Auf Reisen nimmt er eine Mumie in Nobelhotels mit. Im Internierungslager Chrastavice wird er besonders schikaniert und als Graf “Schlitzauge” tituliert. Ich finde Graf Hansi nicht besonders sympathisch aber er ist unbestritten, eine interessante Figur.
Mitsuko war die erste japanische Frau in Europa. Sie kam von Tokio in die böhmische Provinz und verstand die Welt nicht mehr. Amüsant zum Lesen ist die Szene, als Mitsuko zum ersten Mal mit einem Silberbesteck essen soll.
Bernhard Setzwein ist es gelungen die Atmosphäre einzufangen, in der Graf Hansi gelebt hat. Die Familiengeschichte ist unterhaltsam, in leicht ironischer Erzählweise, geschrieben. Die Sprache ist an die Zeit der Handlung und der Adelsschicht angepasst. Mir gefällt dieser Schreibstil, in dem auch ernste Themen, wie Antisemitismus, behandelt werden. Die wichtigen geschichtlichen Details werden im Text eingebettet.
Ein umfangreiches Glossar im Anhang erklärt nicht nur die österreichischen Ausdrücke, sondern auch die im Buch erwähnten historischen Personen und Begriffe. Die relativ kurzen Kapitel sind mit Ort und Datum versehen, damit sich der Leser besser in der Zeit zurechtfindet. Die Lebensgeschichte wird durch Kapitel aus dem Internierungslager unterbrochen, die die Rahmenhandlung bilden. Beschrieben werden nicht nur die katastrophalen Zustände und Schikanen der Insassen im Lager, sondern auch die Auswirkungen der Beneš-Dekrete auf die deutschsprachige Bevölkerung.
Im Internet sind zahlreiche Fotos vom verfallenen Schloss Ronsperg zu sehen und bei Wikipedia können noch weitere Details aus dem Leben der Familie Coudenhove-Kalergi nachgelesen werden.
Fazit
“Der böhmische Samurai” ist ein ganz besonderes Buch, das mir sehr gut gefallen hat. Die Familiengeschichte umfasst die Jahre von 1896 bis 1968. Bernhard Setzwein beschreibt unterhaltsam und lebendig einen Teil mitteleuropäischer Geschichte. Ein Buch, für das man sich Zeit nehmen und nicht nur nebenbei lesen sollte.
Cover
Auf dem Cover ist ein Gemälde abgebildet, das im Schloss hing und das Johannes von Coudenhove-Kalergi zeigt. Das Lorgnon war sein Markenzeichen, ohne das “Graf Hansi” selten in der Öffentlichkeit auftrat.
Autor
Bernhard Setzwein, geboren 1960 in München, lebt in Cham. Verschiedene Auszeichnungen, u.a. Bayerischer Staatsförderspreis für Literatur (1998), Poetik-Professur der Universität Bamberg (2004) und Friedrich-Baur-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2010). Verfasser zahlreicher Bücher, darunter Lyrikbände, Romane (zuletzt die im bayerisch-böhmisch-österreichischen Grenzland spielende Trilogie „Die grüne Jungfer“, Haymon 2003, „Ein seltsames Land“, 2007, und „Der neue Ton“, 2012) sowie sechs Theaterstücke, zuletzt „3165 – Monolog eines Henkers“ (2007). 2010 erschien das Diarium „Das blaue Tagwerk“. Außerdem seit 30 Jahren regelmäßig Hörfunk-Features für den Bayerischen Rundfunk. (Amazon)
Informationen zum Buch
Titel: Der böhmische Samurai
Autor: Bernhard Setzwein
Genre: Roman
Print-Ausgabe: 464 Seiten
Ausgaben: E-Book, gebundene Ausgabe
Verlag: Heymon Verlag (7. März 2017)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3709972868
ISBN-13: 978-3709972861